Montag, 12. September 2016

Begegnung mit dem Schicksal

Ich jogge. Und ich versuche, es so regelmäßig wie möglich im Park bei mir um die Ecke zu tun. Den gleichen Weg zu joggen, in den sich wandelnden Jahreszeiten, der immer schneller werdenden Zeit, verleiht mir ein Gefühl von Sicherheit. Da ist wenigstens etwas, was sich nicht wandelt. Etwas, was verlässlich scheint. Ja, den immer gleichen Weg entlangzulaufen, beruhigt mich immer wieder in dieser heutigen Zeit, in der alle gewohnten Strukturen und alles Vertraute auseinanderzubrechen droht. Deshalb liebe ich dieses Ritual. Außerdem kenne ich den Weg bereits so gut, dass ich dort meinen Gedanken über den Sinn und Unsinn der heutigen Zeit nachhängen kann, ohne vom Weg abzukommen.


Wechsel und Beständigkeit

 
Noch etwas in dem Park kenne ich sehr gut: eine grüne Bank, die im Schutz einer alten Kastanie steht. Mal ist die Bank leer. Mal erhält sie Besuch von einem verliebten Pärchen, mal sitzt ein einsam wirkender Mann auf ihr. Dann sehe ich Mutter und Tochter in einem angeregten Gespräch vertieft. Niemals aber treffe ich einen Menschen ein zweites Mal hier. Aber bei jedem Menschen, den ich hier sitzen sehe, habe ich das Gefühl, einem Menschen mit einem einzigartigen Schicksal zu begegnen.

Und jedes Mal lasse meiner Fantasie freien Lauf, während ich an ihnen vorbeilaufe. Ihre Kleidung, ihre Haltung und ihre Mimik verleitet mich zu Rückschlüssen auf ihren Archetypen, auf ihr Leben und ihr Schicksal. Ob ich richtig liege, werde ich nie erfahren. Manche von ihnen scheinen auf der Sonnenseite des Lebens zu wohnen. Das sind diejenigen, die stolz dasitzen und zufrieden lächeln. Andere wirken, als würden sie schweren Lasten auf ihren Schultern tragen. Ihre Augen wirken müde und die Sorgenfalten in ihrem Gesicht sind tief.

Monologe und Zwiegespräche

Einige von ihnen, die alleine auf dieser Bank sitzen, wirken als wären sie in ein Gespräch vertieft. Ich frage mich dann, wer es wohl ist, mit dem sie reden. Vielleicht halten sie ihrem Ehepartner eine Standpauke oder sagen ihrem Vorgesetzten die Meinung. In manchem Augenpaar meine ich Wut zu erkennen. In andere spiegelt sich Resignation oder Einsamkeit. Bei anderen Menschen erahne ich ein Zwiegespräch. Besonders die traurig wirkenden Gesichter lassen mich Vermutungen anstellen. Ist es ein geliebter Mensch, der gerade gestorben ist mit dem sie Zweisprache halten? Oder ein sterbender Mensch, dem man noch so viel zu sagen hat, sich im Angesicht des Todes aber nicht traut? Andere Menschen wiederum, besonders dann, wenn sie krank aussehen, scheinen ihr Leben hier Revue passieren zu lassen. Zumindest ist es das, was ich in ihre nachdenklich wirkenden Gesichter hineininterpretiere.

Eine besondere Begegnung

Als ich gestern an der Bank vorbeilief, saß ein älterer Mann auf ihr. Sein gepflegtes Äußeres und sein offener Blick hatten etwas sehr Einladendes. Als ich an ihm vorbeilief, lächelten wir einander zu. Ich joggte weiter. Aber ein Teil von mir blieb bei dem Mann gedanklich bei ihm. Mir kam die Idee, wie es wohl wäre, wenn dieser Mann mein Schicksal wäre. Nicht in dem Sinne, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verlieben würde und wir glücklich bis an das Ende aller Tage wären. Nein, viel eher so, dass er so eine Art Engel wäre, er mein Leben und den Sinn meines Daseins kennen würde und mir all die Fragen beantworten könnte, die ich mir immer wieder stelle und ich bislang keine wirklich zufriedenstellenden Antworten gefunden habe.

Würde mir ein Gespräch mit ihm helfen, das Leben besser zu verstehen, so dass mein Leben besser gelingen könnte? Würde ich dann weniger versuchen, das Leben kontrollieren zu wollen und könnte ich mich dann in mein Schicksal hinein entspannen?

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