Donnerstag, 15. September 2016

Egolosigkeit oder Starkes Ich? Sowohl als auch macht glücklich!!

Wir befinden uns in einer äußerst spannenden Zeit. Lange Zeit gab es einen scheinbar tiefen Graben zwischen Spiritualität und Psychotherapie. Denn: die diamentral entgegengesetzte Vorstellung von einem starken Ich, so wie es die westliche Psychotherapie befürwortet und einer Überwindung des Egos, sowie sie im Buddhismus und Yoga häufig propagiert wurde, schienen nicht zusammenpassen. Viele westliche Psychotherapeuten hatten überhaupt keinen Zugang zum Numinosen und umgekehrt konnte man immer wieder von spirituellen Lehrern hören, dass man in der Psychotherapie doch nur um sein Ich kreise, welches es doch zu überwinden gelte.

Die westliche Psychotherapie betont immer wieder die Notwendigkeit eines gesunden und starken Ichs, das sich durch Selbstwertgefühl, Kompetenz und Impulskontrolle seinen Platz in der westlichen Gesellschaft bahnen muss – um in der Ellenbogen-Gesellschaft überhaupt bestehen zu können. Die kontemplativen spirituellen Traditionen des Ostens hingen betrachten das Ich als eine Illusion, die dich von dem Bewusstsein der Einheit trennt und Dich in der Illusion leben lässt, deine Psyche zu leiten. Für sie besteht eine der zentralen Aufgaben der spirituellen Praxis darin, eben dieses Ich zu überwinden, weil es letztlich irreal und unnötig ist. Bislang schien dieser Graben unüberwindbar, aber zum Glück findet auch hier in den letzten Jahre eine große Entwicklung statt und seitdem in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich bewiesen wurde, dass Mediation wirkt, öffnen sich auch westliche Wissenschaftler dafür und betrachten das Ziel der Egolosigkeit nicht mehr nur noch als eine Einladung zur Psychose. Der Psychologe John Wellwood hat sich in seinem Buch „Buddhismus und Psychotherapie“ sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie wir die Entwicklung des Individuums mit der spirituellen Suche nach dem versöhnen, das hinter dem Selbst liegt.

Die Natur und Funktion des Ego

Nach Welwood beginnt das Problem bereits mit einer schlüssigen Definition der Begriffe Ich und Selbst. Hier mischt sich ein Durcheinander ungenauer Vorstellungen und widersprüchlicher Ideen werden diese Begriffe redundant verwenden, ohne dass man sich ihrer genauen Bedeutung bewusst ist. Psychoanalytiker zum Beispiel unterteilen das Ich häufig in zwei Bereiche. Es gibt das funktionale Ich, das die Fähigkeit besitzt, dass innere Funktionieren der Psyche als auch das äußere Funktionieren in der Welt zu organisieren und zu steuern. Und es gibt den Bereich des Egos als Selbstrepräsentanz und seiner Fähigkeit, aus unterschiedlichen Bildern von sich selbst eine Vorstellung eine scheinbar beständiges Selbst herzustellen. Allerdings ist eben dieses Ich nicht direkt erfahrbar, sondern ein rein theoretisches Konstrukt unseres Verstandes. Trotzdem können wir eine gewissen Ego-Erfahrung machen, und zwar als eine Art energetischer Konstellation im Körper-Geist (body-mind). Erfahrene Seher und Mystiker können diese Ichaktivität als eine Form von Kontraktion oder Spannung im Körper wahrnehmen, die trübe eng und dicht ist. Dieser Teil ist uns allen natürlich auch im Alltag als der Teil vertraut, der in der Welt funktioniert und wir dadurch eine Empfindung von sogenannter „Ich-heit“ haben. Betrachten wir diese Form jedoch näher, dann sehen wir, dass dieses vertraute Ich in erster Linie aus Gedanken und Bildern besteht. Ramana Maharshi bezeichnete das, was wir als Ich bezeichnen deshalb einfach als Ich-Gedanken. Deshalb ist die Erfahrung von uns selbst nicht unmittelbar oder direkt, sondern durch Gedanken, Konzepte und Bilder gefiltert.

Die buddhistische Psychologie betrachtet diese Fixierung auf eben diese Ich-Gedanken als extrem problematisch. Denn: Wenn dieses Ich, dass auf Konzepten, und Identifikation beruht, zur „Kommandozentrale“ der Psyche wird, zum Macher, zur Kontrollinstanz, zum „Wissenden“, dann schneidet uns dies von der unmittelbaren, authentischen Erfahrung ab, die aus unserer wahren Natur entsteht. In der Meditation können wir eine Erfahrung machen, die über dieses Gedanken-Ich hinausgeht und eintaucht in eine enorme Weite von Sein und Bewusstheit, die hinter der Konmmandozentrale liegt, Ich-los ist und nicht besetzt ist von diesem kontrollierenden Gefühl des Selbst. Der Kern der buddhistischen Lehre und vieler yogischen Praktiken besteht darin, dass wir genau diese Ichlosigkeit erfahren.


Das funktionale managende Ich

Laut Wellwood besteht eine umfassende Psychologie des Erwachens darin, dann man den weiteren Bereich der egolosen Bewusstheit erkennt, wobei das funktionale Ich als eine mentale Struktur des Übergangs ist, die in der persönlichen Entwicklung einen wichtigen und überaus nützlichen Zweck hat. Wellwood bezeichnet es als eine Art Verwalter für den Übergang, der eine Art Managerfunktion besitzt, die von der Psyche erschaffen wurde, um in der Welt den Weg zu finden. Dieses Ich gilt es also nicht, wie es häufig fälschlicherweise gedacht wird, als ein großes Hinderniss, welches unbedingt überwunden werden muß, oder mit dem man sich am besten gar nicht lange aufhalten sollte, sondern es hat durchaus seine Funktion, die für das eigene Überleben wichtig ist. Besonders Kindern ermöglicht es zu überleben, zu funktionieren und sich während der frühen Jahre zu entwickeln, wenn sie die Kraft ihres größeren Seins noch nicht in der Gänze erkennen oder nutzen können. Dieses Ich besitzt dann eine überaus hilfreiche Struktur, die der Kontrolle dient und die wir entwickeln, um zu überleben und um uns selbst zu schützen. Das ICH glaubt dann, dass es die Kontrolle besitzt. Und eben dieser Glaubt sorgt bei dem Kind für Stabilität und Sicherheit. Positiv gesehen, dient dieses Ich also einer für die Entwicklung nützlichem Zweck. Es ist also eine Art Geschäftsführer, der lernt und meistert, wie wir in dieser Welt zurechtkommen. Tragisch wird es jedoch dann, wenn der Geschäftsführer glaubt, der „Eigentumer“ zu sein, also das, was wir unserem Wesen nach ursprünglich sind. Logischerweise erzeugt dieser Anschein mit der Zeit eine große Verwirrung in Bezug darauf, wer wir tatsächlich sind.

Laut Wellwood hat dieser Fehlglaube in sich auch eine rührende Seite, denn als eine Imitation unserer wahren Natur ist das Ich eine Weise, wie wir versuchen zu sein. Fehlt uns wahre innere Stärke, mit schwierigeren Lebensumständen umzugehen, dann versuchen wir stark zu sein, in dem wir uns anspannen und eng machen. Fehlt uns der Kontakt zu unserem Selbst und fehlt uns wahres Vertrauen, dann versuche wir, ganz vorne oder oben zu sein – mit Druck und über den Verstand. Fehlt uns die unmittelbare Erfahrung unseres Wesens, versuchen wir liebenswert zu sein – indem wir anfangen, Kompromisse zu machen, unseren Eltern zu retten oder unserer Umwelt gefallen wollen. Als Kinder können diese scheinbar nützliche Formen der Anpassung sein, denn sie vermitteln uns dem Anschein, dass wir reale innere Ressourcen haben, mit denen wir aber nicht wirklich in Kontakt sind und die uns nicht faktisch darin unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.


Das Wurzel des Leids

Buddhistischen Lehren und der yogischen Philosophie zufolge ist die Unwissenheit um diese Verwechslung die Ursache, warum wir leiden. Doch diese Unwissenheit, ist dem indischen Weisen Sri Aurobindo zufolge nur unvollständiges Wissen. In diesem Sinne entspricht das Ich einer Form von unvollständigem Wissen, als ein Versuch, uns selbst als real und fähig zu wissen, und nicht als mangelhaft. Dieses Wissen ist unvollständig, weil es nur an der Oberfläche unserer Natur wirksam ist, als eine Fassade, die nicht in unserem wahren Sein geerdet ist. Dies ist so gesehen eine überaus schmerzliche Situation, wie das Ich, dass uns durch den Alltag steuert, sich so sehr bemüht, das Richtige zu tun, aber ohne jemals dabei wirklich Erfolg zu haben.

Kritisieren man das Ich, ist es so laut Wellwood so, als würde man ein Kind dafür verurteilen, dass es nicht erwachsen wird. Du solltest Dir deshalb immer bewusst sein, dass deine Persönlichkeit immer nur eine Phase auf dem Weg ist. Dies zu wissen, ist sehr hilfreich, denn es verhindert, dass wir unser Ich ablehnen, es zerstören zu wollen und uns dafür verurteilen. Viel hilfreicher und langfristig heilsamer ist es, wenn du dir bewusst bist, dass dein Ich sein Bestes versucht und letztendlich Mitgefühl dafür hast, dass es letztendlich aus dieser ganzheitlichen Sicht heraus immer versagt.

Definierst du die Ichstärke hingegen als eine Fähigkeit, wirksam in der Welt zu funktionieren, ohne von inneren Konflikten geschwächt zu werden, dürfte kein spiritueller Lehrer etwas daran auszusetzen haben. Die buddhistische und yogischen Vorstellung von Egolosigkeit hat so gesehen also nicht das Ziel, gegen ein starkes und gesundes Ich anzugehen. Einen guten spirituellen Lehrer erkennst du sogar daran, dass er zustimmt, dass ein gesundes Gefühl von Selbstvertrauen sogar die wichtige Basis für eine spirituelle Praxis ist. Auf dieser Basis überhaupt erst ist das Loslassen von Ich-Fixierung überhaupt erst möglich.

Wenn Du aber an einem gewissen Punkt in Deiner erwachsenen Entwicklung innehälst, dann wirst Du anfangen zu erkennen, dass das mühsame Streben deines Ichs nicht wirklich funktioniert. Vielleicht wirst Du in einem stillen Moment die schmerzhafte Wahrheit erfahren, dass das Ich keine wirkliche Macht hat, dass zu leisten – jene Befriedigung – die er behauptet, erreichen zu können. Der spirituelle Lehrer Gurdjeff sagte dazu immer: „Ich kann nichts tun!“. So wie ein gut funktionierender Blutkreislauf oder eine gute Verdauung wie von selbst funktionieren, so entsteht tiefes Verstehen und echtes Handeln tatsächlich aus einer größeren Gnade heraus, die sich ausserhalb der Reichweite unseres Ichs befinden. Deshalb ist es hilfreich, wenn du dir an eben diesen Punkt in deinem Leben bewusst wirst, dass dein ich eben „nur“ der Geschäftsführer ist und es an der Zeit ist, sich dem Inhaber zuzuwenden und auf ihn zu vertrauen.

Gelingt es Dir, dich von dem Glauben zu lösen, dass dein Ich die wichtigste Instanz in deinem Leben ist und es sich dabei nicht um eine stabile Konstante handelt, die die Basis für das ausgewogene Funktioneren der Psyche oder für effektives Handeln in der Welt darstellt, dann wirst du erkennen, das die Fähigkeiten für Achtsamkeit, Harmonie, Kraft, Integration und Ausgeglichenheit Ressocurcen sind, die zu deiner größeren Natur gehören. Wenn Du diese weitaus größeren Fähigkeiten des Seins aufgedeckt hast – und in sie vertraust, dann können sie die Funktionen übernehmen, die bis dahin das kontrollierende Ich ausgeübt hat. Dann wirst Du auf einer Ebene in der Welt mehr leben, die auf dich nicht mehr von deinem sein abschneidet. Und du wirst das Leben viel intensiver erleben und dich dem Fluss des Lebens hingeben können, getragen vom Sein und geborgen in deinem Selbst.

Wenn sich in der heutigen Zeit Psychotherapeuten und spirituelle Lehrer – aber auch Menschen in Therapie und spirituell Suchende gleichermaßen dafür öffnen, dass das eine ohne das andere, dass Ich nicht ohne das Selbst leben kann und umgekehrt, dann ist ein enormer Wachstum sowohl zwischen diesen Traditionen möglich – die letztendlich auch wieder dem Wohl aller Wesen dient! Schließlich sollte es doch auch bei psychologischen und spirituellen Traditionen nie nur darum gehen, das eigene Konzept für das Richtige halten, sondern den Blick zu weiten auch hier zu erkennen, dass sich sowie Ich und Selbst auch die verschiedenen Ansätze befruchten und ergänzen können.

Zum Weiterlesen: John Welwood: Psychotherapie und Buddhismus. Der Weg persönlicher und spiritueller Transformation. Arbor verlag 2010. Dieses Buch ist eine empfehlenswertes Grundlagenwerk sowohl für spirituelle Lehrer als auch für Psychotherapeuten. Welwood vermittelt die Gegensätze und die Überschneidungen, zeigt auf, wo Gefahren sind, wenn wir psychologische Aspekte ausblenden oder umgekehrt, wenn wir unserer Selbst ausblenden.



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