Donnerstag, 30. November 2017

Das Meditationskissen, mein Freund, mein Feind, meine Insel!

Es ist morgens um 5.45 Uhr. Ich schrecke aus dem Schlaf und springe aus dem Bett. Wir schleichen zur Meditationshalle. Wir, das sind 24 verschlafene Gestalten. Eine viertel Stunde später sitze ich auf dem Meditationskissen. Über 10 Stunden Meditation täglich stehen für die nächsten 12 Tage auf dem Programm. Rechts von mir sitzt ein Mann Anfang vierzig. Er hat eine saftige Erkältung, die sich gut 5 Tage lang hinzieht. Und ich bin seine Zeugin. Sein Husten, sein Naseputzen, sein Schniefen, sein Atem, sein unterdrückter Husten. Dass alles erlebe ich hautnah mit.

Ich sitze da in bequemer Kleidung und richte mich auf dem Kissen für die erste Meditation ein. Um Punkt sechs ertönt der Gong zum ersten Mal. Ich fange an, meinen Atem zu beobachten. Ich beobachte, wie er kommt und wie er geht. Verliere mich. Hole mich wieder zurück. Das wird ein großer Bestandteil meiner Praxis sein in den nächsten Tagen.

Ich bin hergekommen, weil ich mich entfernen wollte vom Krach der Welt, mich alleine aushalten und dabei erfahren, dass Erkenntnisse und Tiefen, auch Untiefen auf mich warten und ein bewussterer Umgang mit ihnen mein Leben reicher machen werden. Ich bin aber auch hergekommen, weil ich mir selbst näherkommen möchte, um dadurch auch anderen Menschen näher zu kommen. Ich möchte mich selbst verstehen lernen, um auch anderen besser zu verstehen. Ich möchte Glückswellen erfahren, die mich mit mir selbst tiefer in Kontakt bringen, um auch mit dem Leben mehr in Kontakt zu kommen.

Nach vierzig Minuten ertönt der Gong zum zweiten Mal. Jetzt gibt es eine Gehmeditation, dann eine weitere Sitzmeditation. Dem folgt das Frühstück. Um 9.30 Uhr geht es weiter mit Sitzen, gehen, sitzen, gehen, sitzen, essen, schlafen, sitzen, gehen, sitzen und gehen. Dann gibt es einen Vortrag und danach geht es wieder weiter, bis um 21 Uhr der Gong die letzte Meditation beendet und ich erschöpft in mein Bett falle.

In den kommenden 12 Tagen erlebe ich eine äußerst vielschichtige Palette von Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. Mit ihnen bin ich mal vollständig und mal gar nicht identifiziert. Dabei wollte ich doch einfach nur im reinen Gewahrsein sitzen! Ich wollte einfach nur dasitzen und in mir ruhen. Wunsch- und bewegungslos dasitzen. Gedankenlos. Nur sitzen. Nur da sein. Sein. Aber dieser Wunsch wird besonders in den ersten drei Tagen immer wieder unterbrochen von dem Gefühl, aufspringen zu wollen und wegzuzurennen. Zu sehr absorbieren mich der Husten, das Schniefen, das Naseputzen, das laute Atmen meines Nachbarn.

Ich versuche, bei mir zu bleiben und konzentriere mich auf mein Einatmen, auf mein Ausatmen. Mit strenger Achtsamkeit achte ich auf meine Nasenspitze und das, was ich dabei spüre, wenn der Atem in den Körper einströmt und ihn durch die Nasenlöcher wieder verlässt. Diese Übung verlangt von mir immer wieder eine hohe geistige Anstrengung. Ich scheitere an ihr alle drei, vier Sekunden. Ich scheitere, indem ich die Nasenspitze vergesse, das gleichmäßige Atmen, die Achtsamkeit. Ich scheitere, in dem ich abdrifte und mich in Gedanken verliere. Mal ist es der Gesang des Vogels, der ein willkommenes Sprungbrett in eine fantastische Welt darstellt. Mal ist es das achtsame Schritt-für-Schritt-gehen während der Gehmeditation, die die Grenzen auflöst zwischen mir und der Welt.

Jeden Tag lasse ich mich aufs Neue auf die Herausforderung ein, bewusst auf dem Kissen zu sitzen. Da zu sein, mit jeder Faser meines Körpers. Von Moment zu Moment versuche ich, nicht ununterbrochen abwesend zu sein, nicht ununterbrochen mit meinem Kopf woanders zu sein als mit meinem Körper. Ich versuche es immer und immer wieder. Mal wird es mir in einem Bruchteil von Sekunden bewusst, dass ich schon wieder dabei bin, mich in eine der zahllosen Geschichten zu verwickeln, die aus meinen Gedanken entstehen. Mal bemerke ich es erst viele, viele Minuten später. Dann stelle mit Schrecken fest, dass ich nicht mit Kopf und Körper gleichermaßen auf dem Kissen da bin. Bei allem ist das Kissen mein stummer Zeuge. Es urteilt nicht, verbannt mich nicht. Lässt mich einfach sein.

Nach ein paar Tagen wird es ruhiger in mir. Ich komme an. Und indem ich ankomme, wir mir wieder einmal bewusst, wie große meine Fähigkeit ist, mich aus der Wirklichkeit, aus dem Hier und Jetzt herauszukatapultieren. Dazu braucht es nur einen einzigen Gedanken.

Ich habe den tiefen Wunsch, mir selbst näher zu kommen. Ich möchte Herzkammern in mir entdecken, die mir bislang verschlossen waren. Solche, dir mir tiefes Urvertrauen aufzeigen, oder mir die bedingungslose Liebe offenbaren, oder mir irgendetwas Anderes von mir zeigen. Etwas, wonach ich mich bei anderen gesehnt habe und gerne in mir selbst finden möchte.

Zwischendurch habe ich aber das Gefühl, dass mir der lange Atem dafür fehlt, dieses Etwas zu finden. Ich fühle mich eingeengt. Die Regeln stören mich, der Gong macht mich zornig, die Struktur nimmt mir die Luft zu atmen, statt den inneren Raum weit werden zu lassen. Ich sehne mich nach der Erfahrung des „Offenen Raumes“, die der Seminarleiter verspricht, wenn wir uns nur entsprechend hingeben. Statt einer Öffnung erdrücken mich solche Versprechungen. Ich fühle mich manipuliert, habe das Gefühl, dass man mir vorgibt, in welche Richtung die Suche gehen soll. Ich möchte mich auf die Suche nach mir machen, ohne gleich von Ritualen und Regeln umzingelt oder erdrückt zu werden oder dem Druck, etwas Bestimmtes erfahren zu müssen.

Nach ein paar Tagen ist mein Nachbar wieder gesund. Nun ruht er wie eine Statue, wie ein Buddha. Wie elegant es aussieht, wie er da sitzt. So, als könne ihn für den Rest des Retreats nichts mehr aus der Ruhe bringen. Ich beneide ihn, weil auch ich gerne da sitzen würde wie ein Buddha. Stattdessen rutsche ich nach ein paar Stunden immer wieder auf meinem Kissen hin und her, in der Hoffnung, irgendwann die ideale Sitzposition gefunden zu haben, in der Hoffnung, dass der Gong wieder ertönt und ich raus kann in die Natur, wo die Sonne scheint und die Weite lockt.

Immer wieder nehme ich meinen Nachbar aus dem Augenwinkel wahr, wenn ich lange vor dem Ertönen des Gongs die Augen öffne. Er sieht so gelassen aus. Ein unruhiger Geist scheint ihn auch nicht zu quälen. Er sitzt so gelassen da, so als wäre er im Waffenstillstand mit der Welt. Es ist ihm wahrscheinlich in die Wiege gelegt worden, in sich zu ruhen und mit der Welt in Frieden zu sein. Ich muss mir den Frieden umständlich und mühsam auf dem Kissen erkämpfen. Das Kissen selbst wird zu einem stummem, geduldigen Zeuge all dessen.

Einige Teilnehmer strahlen nach einigen Tag etwas Schönes aus. Durch das stille Dasitzen wird überhaupt jeder hier im Raum für mich nach und nach attraktiver, liebenswerter, mir näher. Das klingt bizzar, aber diese Erfahrung zeigt im Laufe der Retreats immer in die gleiche Richtung. Und je länger die Teilnehmer sitzen, desto offener wirken sie auf mich. Auch ich selbst finde mich von Tag zu Tag liebenswerter. Komme mehr bei mir an. Kann mich sein lassen. Kann sein.

12 Tage später: Der Gong ertönt das letzte Mal. Ich atme aus und atme auf. Mein erstes Retreat geht zu Ende. Jetzt bin ich wieder frei. Kann gehen tun und lassen, was ich möchte und wann ich es möchte. Ich stehe auf und verneige mich vor meinem Kissen. Es war 12 Tage lang meine Anker, mein Ruhepol, mein Ort der Entspannung und der Offenbarung, mein Freund und mein Feind, mein stummer, nicht wertender Zeuge. 
 

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